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die welt ist nicht genug

Ich freue mich ganz besonders, hier im Bethanien etwas über meine Arbeit erzählen zu dürfen. Dieser Ort hängt sehr eng mit der persönlichen Biografie meiner Wahrnehmung zusammen. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist nämlich der Besuch einer Ausstellung mit Fotografien hier im Bethanien 1975, vor ziemlich genau 30 Jahren. Jetzt sagen Sie vermutlich, es sei etwas übertrieben, wenn eine Vierjährige einen Ausstellungsbesuch so abspeichert, dass sie sich später daran erinnert. Und es ist natürlich auch nur indirekt die Fotoausstellung, die diese Erinnerung speist, es ist vielmehr die Erfahrung einer fremden Lebenswelt. Der Fußmarsch vom U-Bahnhof Kottbusser Tor zum Mariannenplatz eröffnet der Vierjährigen eine komplett neue Welt. Ihr Alltagsleben spielt sich in einer neu gebauten Reihenhaussiedlung am Stadtrand ab. Hier ist sie konfrontiert mit fremden Gerüchen, fremd aussehenden Menschen und Häusern, die dort, wo sie wohnt, sehr anders aussehen. Auf den Fotografien in der Ausstellung findet sie genau diese Fremdheit wieder, da es sich um eine Ausstellung über die türkische Immigration nach Berlin handelt. In der Wahrnehmung der Vierjährigen ergibt sich eine Deckungsgleichheit des unmittelbar Erlebten, also der Wahrnehmung der Außenwelt, mit der Fotografie. In meiner Auseinandersetzung mit Fotografie heute bildet das kritische Hinterfragen der Ähnlichkeit zwischen Welt und Abbildung einen zentralen Ansatzpunkt. Deshalb möchte ich hier einiges über die Differenz zwischen der Wahrnehmung der Welt und dem Einsatz von Fotografie erzählen.

Mein Interesse gilt der abbildenden Fotografie. Damit ist eine Fotografie gemeint, die sich auf die Welt bezieht und im allgemeinen als dokumentarisch angesehen werden kann. Es ist recht schwierig, die Dokumentarfotografie klar zu definieren. Doch die meisten von uns haben eine grundsätzliche Vorstellung davon, wann eine Fotografie dokumentarisch und damit vermeintlich wahr ist und wann nicht. In Diskussionen um manipulierte Medienbilder ist in den letzten Jahren wiederholt die nicht wahrnehmbare digitale Veränderung oder Collage von Fotografien kritisiert worden. Solcher Art behandelte Bilder erfüllen oberflächlich gesehen die Kriterien des Dokumentarischen. Mit dem Wissen um die Manipulation treten sie jedoch über in die Welt der Inszenierung und hören auf, dokumentarisch zu sein. Ausgehend von dieser Annahme ließe sich Fotografie in die zwei Kategorien dokumentarisch und inszeniert unterteilen. Die angedeutete Schwierigkeit, die Kategorien zweifelsfrei anwenden zu können, macht jedoch deutlich, dass eine Grauzone zwischen den beiden Feldern existiert. Hier finden sich beispielsweise auch Formen der künstlerischen Dokumentarfotografie.

Jetzt kann man natürlich fragen, wieso eine künstlerische Dokumentarfotografie anders sein sollte als eine nicht künstlerische. Schließlich hat Dokumentarfotografie die Aufgabe, möglichst objektiv die Welt darzustellen und etwas über sie auszusagen. Eine vorrangig nicht künstlerische Dokumentarfotografie füllt Zeitungen und Zeitschriften, aber wenn sie herausragende ästhetische Qualitäten besitzt, kann sie auch in Museen oder Galerien gezeigt werden. Eine künstlerische Dokumentarfotografie ist in Ausstellungen und Kunstbüchern zu sehen, ist aber zuweilen auch in Magazinen abgedruckt. An dem Medium, in dem die Bilder betrachtet werden können, lässt sich eine Unterscheidung deshalb nicht festmachen. Dass es Unterschiede gibt muss hier zunächst unbegründet stehen bleiben, ebenso wie die Frage, worin diese Unterschiede bestehen. Ich hoffe, dies im Lauf meines Vortrags etwas erhellen zu können und damit gleichermaßen einen Einblick in meine Arbeitsweise zu vermitteln.

Zunächst möchte ich etwas über das Projekt Plan erzählen, das ich 1996 gemeinsam mit meiner Kollegin Elisabeth Neudörfl fotografiert habe und das 1999 als Buch erschienen ist. Das Projekt ist inhaltlich aus der Diskussion um die Entwürfe des zentralen Holocaust-Mahnmals entstanden. Darauf wird jedoch zunächst nicht hingewiesen. Schlägt man das Buch auf und blättert es durch, sieht man immer rechtsseitig schwarz-weiße Fotografien, die recht belanglos wirken. Weder ist etwas Spektakuläres abgebildet noch entsprechen die Bilder einer gängigen schwarz-weißen Bildästhetik mit hohen Kontrasten und großer Bildschärfe. Sie wirken sehr grau und ihre Bedeutung erschließt sich zunächst nicht. Es existieren keine Bildunterschriften oder andere Texte, die die Lesbarkeit unterstützen oder lenken. Von daher ist die Betrachterin zunächst allein auf eigene Ideen und Assoziationen angewiesen und auf die eigene Erfahrung im Umgang mit Fotografien.

Die Bilder scheinen einer dokumentarischen Bildsprache verpflichtet, sie wirken nicht inszeniert, was durch ihre Alltäglichkeit noch weiter betont wird. Hat man bis zum Ende des Buches geblättert, stellt eine Textseite einen konkreten Bezug her. Hier sind Orte in Berlin, die mit der Ausgrenzung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung während der Nazizeit in Verbindung stehen, mit Adresse und Funktion aufgelistet. Die Reihenfolge legt nahe, dass die Bilder an diesen Orten fotografiert sind, es gibt jedoch keine Seitenzahlen, die das Verzeichnis zu einem Inhaltsverzeichnis machen. Es ist demnach kaum möglich, die Fotografien mit den Orten in Einklang zu bringen. Bei vielen BetrachterInnen schleicht sich das Gefühl ein, etwas auf den Bildern übersehen zu haben, denn der Zusammenhang behauptet ja, dass sich hier an diesen Orten Entscheidendes zugetragen hat. Die Fotografien selbst geben jedoch auf die Ereignisse keinen Hinweis, was sich auch beim erneuten Anschauen bestätigt. Weder lassen sich konkrete Spuren finden, noch sind Verweise in Form von Gedenktafeln oder Skulpturen, die sich an einigen der fotografierten Orte befinden, auf den Bildern zu sehen.

Das Buch ist nicht mit einem aufklärerischen Anspruch entstanden. Es dient nicht als Stadtführer oder pädagogisches Angebot. Es war uns wichtig, in den Bildern selbst keine aufgesetzte Emotionalität zu erzeugen. Die Atmosphäre, die entsteht, wird allein mit bildnerischen Mitteln erzielt, wie zum Beispiel den unbelaubten Bäumen und Sträuchern, die sich durch das gesamte Projekt ziehen. Andere Fotografen nutzen fotografische Effekte wie beispielsweise einen dramatisch abgedunkelten Himmel oder Schärfe-Unschärferelationen, um der Auseinandersetzung mit diesem Thema eine Dramatik zu verleihen. Uns ging es vielmehr darum, die Möglichkeit der Fotografie, Aussagen über einen Ort zu machen, kritisch zu hinterfragen. Damit wird gleichzeitig zum Nachdenken über das Konzept des Erinnerns an den Holocaust im Land der Täter angeregt.

Das Buch funktioniert somit auf einer Meta-Ebene, da es neben den inhaltlichen auch Fragen des Fotografischen verhandelt. Das Thema ist präsent, drängt sich jedoch nicht auf. Die Bilder werden zur Projektionsfläche. Die Betrachterin muss ihre eigenen Erfahrungen, ihr Wissen und ihre persönlichen Assoziationen mit einbringen. Dies ist eigentlich immer der Fall, wenn man sich Bilder anschaut. Fotografien existieren nicht losgelöst vom Erfahrungshorizont der BetrachterInnen.

Üblicherweise gibt es jedoch Hilfestellungen, mit denen eine Richtung der Lesart und des Bildverständnisses vorgezeichnet werden. Man liest die Bildunterschrift und sieht möglicherweise genau das, was sie vorgibt. Der Text stellt einen Kontext her, in dem das einzelne Bild erfahren und verstanden werden kann. Es kann aber vorkommen, dass das textlich Beschriebene auf dem Bild gar nicht zu sehen ist, weil der Text eine im Bild nicht darstellbare Hintergrundinformation zur Verfügung stellt. Dies ist auch bei Plan der Fall. Der Text steht jedoch erst ganz am Ende, weshalb man zunächst die Bilder betrachten muss. Er lässt sich aber nicht – wie eine Bildlegende – den einzelnen Bildern zuordnen.

Auch eine dokumentarische Fotografie, die nichts Außergewöhnliches darstellt, sondern wie hier eine Sichtweise aus der Perspektive einer Fußgängerin vermittelt, ist nicht unbedingt verständlich. Sie benötigt die Einbettung in einen Kontext, der zum Verständnis beiträgt. Das Prinzip des Dokumentarischen mag eine Verbindung zwischen Fotografie und Welt suggerieren, es wird jedoch deutlich, dass die Fotografie ausschnitthaft ist. Sie negiert zeitliche und räumliche Zusammenhänge, weshalb große Unterschiede zwischen wahrnehmbarer Welt und abbildender Fotografie bestehen.

Nun möchte ich über die Arbeit sprechen, die hier im Raum präsentiert ist. Sie heißt Code Orange und ich habe sie im Frühjahr 2003 während der heißen Phase des Irak-Kriegs in Washington DC und in New York City fotografiert. Der Titel verweist auf das US-amerikanische Homeland Security Advisory System, das Hinweissystem über die terroristische Gefährdung der Vereinigten Staaten. Die Sicherheitsstufe Orange stellt den zweithöchsten Bedrohungsgrad dar, dem spezifische Sicherheitsmaßnahmen zugeordnet sind. Weiß man um dieses System und erkennt man, dass auf den Bildern amerikanische Großstädte abgebildet sind, gibt der Titel einen Hinweis auf die thematische Richtung der Arbeit.

Die schwarz-weißen Fotografien zeigen urbane Situationen, Straßenkreuzungen, Autos, Gebäude, Parks, Passanten. Zunächst erscheint nichts besonders auffällig. Auf den zweiten Blick fallen jedoch zunehmend Ereignisse ins Blickfeld. Straßen werden von der Polizei abgesperrt, anderswo sind zwar keine Sicherheitskräfte zu entdecken, aber die Straßen sind merkwürdig leer. Bürgersteige sind mit Betonabsperrungen versehen, ein Mann hantiert neben einer Absperrung unter der Motorhaube seines Wagens, Garagenausfahrten scheinen durch Überwachungskameras gut gesichert. In kurzen Sequenzen werden wir Zeugen eines Geschehens, das sich ebenso wenig einordnen lässt wie die Geschehnisse auf den Bildern der anderen Bildgruppen. Zunehmend breitet sich ein Verdacht aus. Worüber sprechen wohl die beiden Herren, die dort im Schatten zwischen den parkenden Autos stehen? Wen belauschen die jungen Männer mit den Kopfhörern auf der Parkbank? Wer mag in dem Auto sitzen, das gerade das Parkhaus verlässt und was hat er vor? Und was hat es mit den weißen Kleinbussen auf sich, die an verschiedenen Stellen der Stadt auftauchen?

Die Bildsprache ist eine der Beobachtung, wie man sie auch aus dem Kino kennt. Dabei wird jedoch nicht deutlich, wer wen beobachtet und warum. Das Setting bleibt ambivalent. Der weiße Kleinbus beispielsweise taucht in der medialen Verwendung immer wieder in Situationen von Beobachtung auf. Er ist in amerikanischen Filmen Behausung für die Beobachter, gleichermaßen ist er Rückzugsort und Fluchtwagen, nicht nur im Kino. O.J. Simpson nutzte zu seiner spektakulär aus der Hubschrauberperspektive von einem Fernsehteam dokumentierten Flucht einen weißen Van. Und lange Zeit nahm man an, der Sniper von Washington würde einen solchen Kleinbus fahren, was sich schließlich als falsch erwies. Der weiße Van ist Requisite der Guten wie der Bösen.

Weil sie Dinge fotografiert, die nach dem Verständnis der Sicherheitskräfte nicht fotografierenswert sind, wird die Fotografin selbst verdächtig. Sie richtet ihre mit einem Teleobjektiv ausgestattete Kamera beispielsweise auf architektonisch uninteressante Regierungsgebäude. Man unterstellt ihr, sie wolle Anschlagsziele auskundschaften, ohne jedoch darüber nachzudenken, ob sich TerroristInnen nicht wesentlich unauffälliger verhalten würden. Ihr Verhalten berührt die Grundfeste der Macht, denn die Macht wird vom Beobachter ausgeübt. Wenn dieser Machtausübung mit ähnlichen Mitteln von unten begegnet wird entsteht bei den offiziellen BeobachterInnen ein Moment der Irritation.

Indem eine Bildsprache der Beobachtung adaptiert wird, wird die Fotografin selbst zur Beobachterin, weshalb auch bei der Betrachtung der Bilder eine Beobachterposition eingenommen wird. Aber ist die Beobachterposition die der Guten oder der Bösen? Wie konstituiert sich die Bedeutung des Beobachteten? Die Bedeutung wird während der Betrachtung erzeugt. Jeder, der sich die Fotografien ansieht, entwickelt eigene Geschichten. Es gibt nicht eine einzige korrekte Lesart, vielmehr kann jeder seinen eigenen Ideen folgen.

Entscheidend für die Betrachtung ist die Zusammenstellung der Bilder. Die Hängung in Blöcken macht deutlich, dass die einzelne Fotografie im Zusammenhang der anderen Bilder angeschaut werden muss, da es schwer möglich ist, sich in der Betrachtung auf eine einzelne Fotografie zu konzentrieren, ohne auch die daneben oder darüber hängenden wahrzunehmen. Nur in der Zusammenstellung breitet sich die Atmosphäre des Verdachts auf die gesamte Arbeit aus, denn es gibt einzelne Bilder, in denen nichts Auffälliges oder Verdächtiges zu sehen ist. Und doch werden diese Bilder ebenso in die Gesamtwirkung einbezogen. In der Zusammenstellung verliert die einzelne Fotografie an Wichtigkeit, auch wenn sie als einzelnes Bild bildnerischen und ästhetischen Maßstäben genügen muss. Neben einer Kontextualisierung durch Text kann auch eine Reihung von Bildern einen Zusammenhang herstellen, der einen Beitrag zur Lesung von Fotografien leistet.

Das Prinzip des Dokumentarischen suggeriert, dass hier eine Aussage über die Situation in Washington DC gemacht wird. Ich bin wiederholt gefragt worden, wie man das denn aushalten kann, in einer solchen Stadt zu leben, wenn alles und jeder verdächtig wird. Die Dokumentarfotografie wird von mir jedoch nicht genutzt, um eine genau beobachtete Aussage darüber zu treffen, wie die Welt ist. Vielmehr konstruiere ich mit Hilfe der Dokumentarfotografie ein Bild der Welt, um das Thema auf den Punkt zu bringen. Es geht nicht darum zu sagen: so ist Washington, so habe ich es erlebt. Es geht vielmehr darum, ein Thema zu umreißen und eine bildmäßige Umsetzung dafür zu finden. Dafür verwende ich bekannte Methoden, da das Themenfeld Überwachung in anderen Medien hinreichend bearbeitet worden ist und die Bildsprache verstanden werden kann.

Die beiden vorgestellten Projekte zeigen ausschnitthaft einen möglichen Umgang mit künstlerischer Dokumentarfotografie. Obwohl Welt abgebildet ist, treffen die Fotografien keine Aussage darüber, wie die Welt ist. Sie wollen nicht pauschal eine Weltwahrnehmung bieten, die sich so auch einem Besucher der fotografierten Orte darstellen würde. Sie versuchen vielmehr, Aussagen auf dokumentarische Weise zu verdichten. Es geht also nicht um Welt, sondern um die Abbildung von Welt und damit um das Bild. Das Abbild kann zwar einen Einblick in Aspekte der Welt bieten, es kann jedoch nicht Äquivalent zur eigenen Wahrnehmung werden.