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Das Fremde sehen
Einleitung des Bandes:
»Das Fremde sehen. Der europäische Blick auf Japan in der künstlerischen Dokumentarfotografie«

erschienen im November 2008 im Transcript-Verlag Bielefeld
Information und Bestellung: http://www.transcript-verlag.de

EINLEITUNG

Als der amerikanische Gesandte Commodore Matthew Perry 1853 in Japan landet, um das seit fast 250 Jahren für Fremde weitgehend unzugängliche Land zur Öffnung seiner Häfen zu bewegen, wird er vom Fotografen Eliphalet M. Brown Junior begleitet. Dieser beginnt umgehend damit, Japaner und Japanerinnen in ihren fremd anmutenden Kleidern zu porträtieren sowie exotische Landschaften und Architekturen zu dokumentieren. Browns fotografischer Einsatz ist nicht zuletzt auf das eindringliche Plädoyer François Aragos zurückzuführen, der 1839 Louis Jacques Mandé Daguerres Erfindung der französischen Akademie der Wissenschaften vorstellt und sogleich die Dokumentation fremder Länder und ihrer Kulturgüter als eine der sinnfälligen Gebrauchsweisen des neuen Mediums Fotografie benennt (vgl. Arago 1980: 51f.).

Aufgrund des Erfolges der Perry-Mission siedeln sich in den der Öffnung folgenden Jahren zahlreiche Europäer in Japan an. Als einer der ersten in Yokohama ansässigen Fotografen schafft Felice Beato »einen ›visuellen Code‹ von Japan, der einerseits dem europäischen enzyklopädischen Erfassen der ›Fremde‹ und der Sehnsucht nach dem Einfachen und Anderen [entspricht], andererseits eine maßgebliche Rolle bei der Prägung der Themen und Motive« spielt (Delank 1996: 283). Beatos zweibändiges Albenwerk Photographic Views of Japan von 1868 setzt thematische Maßstäbe und dient lange Zeit als Vorbild in der Japanfotografie. Die vorrangig für den westlichen Markt angefertigten Fotografien bedienen die Sehnsucht nach der geheimnisvoll erscheinenden japanischen Exotik. »Beliebte Motive [sind] – damals wie heute – bekannte Bauwerke, landschaftlich schöne Orte, ›typisch Japanisches‹ wie Frauen im Kimono und Samurai in Rüstung, die Darstellung künstlerischer oder handwerklicher Aktivitäten [und] religiöser Zeremonien« (Delank 2003: 2). Die japanische Art sich zu kleiden und zu frisieren oder die Methoden des Handwerks gelten als ebenso abbildungswürdig wie die fremden Naturschönheiten und Architekturen, die sehr anders als europäische anmuten. Durch die umfangreiche Bildproduktion wird eine spezifische Sichtweise auf Japan etabliert. Diese Bildwelten beeinflussen die westliche Japanrezeption und prägen bis heute unser Japanbild. Auch wenn insbesondere seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zahlreiche neue Themenbereiche die Japandarstellungen erweitert haben und heute das zeitgenössische Japan mitsamt seiner technologischen Avanciertheit sowie seinen Subkulturen repräsentieren, scheinen die klischeehaften Darstellungen japanischer Fremdheit bis in die Gegenwart hinein zu überwiegen.

Die Beziehungen zwischen Europa und Japan beginnen jedoch nicht erst mit der Öffnung Japans ab 1853. Bereits seit dem sechzehnten Jahrhundert bestehen erste Kontakte, die auch während der fast 250 Jahre währenden Abschließung Japans nicht abreißen. Seit Beginn der Beziehungen entstehen Wechselwirkungen kultureller Art. Die Europäer sind insbesondere vom japanischen Kunsthandwerk begeistert. Als in Meißen im achtzehnten Jahrhundert die Porzellanproduktion aufgenommen wird, werden zunächst traditionelle japanische Muster nachgeahmt (vgl. Impey 1993: 162). Umgekehrt beeinflussen westliche Wissenschaften die japanische Forschung. Die so genannten Rangaku (holländische Wissenschaften) werden in Japan aufmerksam rezipiert. Die Rangaku umfassen vor allem die naturwissenschaftlichen Bereiche der Physik, Chemie, Astronomie, Botanik und Optik, technisches Wissen wie Vermessungs und Waffenkunde, aber auch Geografie und Geschichte. Als wichtigste Disziplin steht jedoch die westliche Medizin im Mittelpunkt (vgl. Tadashi 1993: 94). Die Rangaku bilden die Grundlagen für zahlreiche nach der japanischen Öffnung übernommene Neuerungen aus den westlichen Ländern. In der Bildenden Kunst ist insbesondere die Perspektive eine aus Europa eingeführte Erfindung, mit der japanische Künstler seit dem achtzehnten Jahrhundert experimentieren (vgl. Screech 1993: 128ff.).

Die Fähigkeit der japanischen Kultur, Einflüsse aus anderen Kulturen in die eigene zu integrieren, wirkt sich bis heute auf die europäische Japanrezeption aus. Als einziger nichtwestlicher Vertreter unter den führenden Industrienationen der Welt oszilliert Japan aus europäischer Sicht zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Lebensstandard und Stand der Industrialisierung wirken in Europa sehr vertraut, während die traditionelle Kultur als fremd und anders wahrgenommen wird. Weil Japan nie kolonisiert war, sondern durch eine weitgehend eigenständige Industrialisierungsleistung zu den westlichen Nationen aufschließen konnte, ohne zuvor von ihnen ausgebeutet zu werden, nimmt Japan eine Sonderstellung unter den asiatischen Ländern ein. Denn in Europa empfindet man Japan nicht als absolut fremd – wie weniger entwickelte asiatische Staaten – noch ist es so vertraut wie andere christlicheuropäisch geprägte Länder, beispielsweise in Südamerika. Weil es in den historischen Kontakten zwischen Japan und Europa, im Vergleich zu Regionen, zwischen denen koloniale Beziehungen bestanden, keine extremen Hierarchien gibt, können sich Japaner und Europäer grundsätzlich auf Augenhöhe gegenüber treten. Dies trifft zwar nicht pauschal für den gesamten historischen Zeitraum der Begegnung vom sechzehnten Jahrhundert bis heute zu, dennoch wird Japan von Anbeginn des Kontakts in Bereichen von Kultur und Gesellschaft als ähnlich entwickelt betrachtet wie europäische Nationen. In der Aufklärung – beispielsweise bei Voltaire – wird es sogar als Vorbild für ein Europa gesehen, das moralisch zu verkommen droht (vgl. Friese 1990: 37).

Da sich Japan erst kurz nach der Erfindung der Fotografie gegenüber dem Ausland öffnet, wird die Fotografie zu einer wichtigen Zeugin der Wandlung Japans von einer feudalen hin zu einer modernen Industriegesellschaft. Aus diesem Grund zeigen frühe Fotografien ein weitgehend traditionelles Japan, das sich nach und nach verändert. Allerdings interessieren sich westliche Fotografen auch während der zunehmenden Industrialisierung hauptsächlich für Traditionelles, während japanische Fotografen unter anderem die Industrialisierungsleistung dokumentieren, beispielsweise die Erschließung der nördlichen Hauptinsel Hokkaido (vgl. Kinoshita 2003: 31ff.). Für den westlichen Markt fertigen in der Frühzeit der Fotografie allerdings auch japanische Fotografen Bilder vom exotischen Japan an. Die verschiedenen Bildwelten deuten auf unterschiedliche Interessen in der Japandarstellung hin. Heute lässt sich eine solche thematische Trennung der bildnerischen Interessen von japanischer und europäischer Seite nicht aufrecht erhalten, dennoch wirken insbesondere die historisch entwickelten westlichen Präferenzen in der Vermittlung Japans bis in die Gegenwart hinein.

Das beeinflusst auch die europäischen Vorstellungen von Japan. Widmet sich die Literaturwissenschaft seit langem in großem Umfang der Untersuchung der Entwicklung des Japanbildes in der europäischen Literatur, fehlen ähnliche Erkenntnisse für die Rolle der Fotografie. Ohne eine breit angelegte historische Untersuchung des europäischen Japanbildes innerhalb der Fotografiegeschichte vornehmen zu wollen, werden die historischen Grundlagen, vor deren Hintergrund sich auch visuelle Vorstellungen von Japan in Europa entwickelt haben, in der vorliegenden Studie untersucht. Dies bildet die Ausgangsbasis für die Betrachtung der Entwicklungen in der Japanfotografie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Über einen langen Zeitrum hinweg wird der Fotografie, insbesondere ihren dokumentarischen Gebrauchsweisen, die Fähigkeit zugesprochen, eine authentische Darstellung der Realität zu ermöglichen. Aus diesem Grund gilt sie auch als geeignet, sich mit fremden Kulturen zu beschäftigen und deren Besonderheiten wahrheitsgemäß zu übermitteln. Im kritischen Diskurs kann diese Annahme jedoch nicht aufrecht erhalten werden. Die Fotografie vermag eine wahrheitsgemäße Wiedergabe der Welt nicht zu leisten. Wenn eine authentische Abbildung nicht möglich ist, was bedeutet das für die fotografische Annäherung an das Fremde? Kann Fotografie überhaupt eine glaubhafte Darstellung des Fremden leisten? Und welche Möglichkeiten bieten verschiedene dokumentarfotografische Ansätze für die Darstellung des Fremden? Die Erkenntnis der Unmöglichkeit objektiver Beschreibungen des Fremden – beispielsweise in der Ethnologie – führt zu der Annahme, dass eine subjektive Herangehensweise Fremdheitsdarstellungen ermöglichen kann, die dem Fremden als Fremdes gerecht werden. Hier wird ein besonderes Augenmerk auf die Kunst gelegt, die zur Überwindung der Krise der (ethnografischen) Repräsentation einen Ausweg zu versprechen scheint. Folgen angewandte dokumentarfotografische Praktiken in der Regel dem Wirklichkeitsversprechen der Fotografie, indem sie vermeintlich objektive Belege für beschreibbare Gegebenheiten liefern, operieren künstlerische Gebrauchsweisen der Dokumentarfotografie in einem großen Freiraum. Hier wird die mediale Bedingtheit des Mediums reflektiert und mit Wirkungen experimentiert. Dieser erweiterte Handlungsspielraum künstlerischer Formen der Dokumentarfotografie deutet auf interessante Auseinandersetzungen mit dem Fremden, weshalb diese Praktiken im Zentrum der Untersuchung stehen.

Weil die zeitgenössischen europäischen Japandarstellungen in der künstlerischen Dokumentarfotografie auf eine langjährige Tradition aufbauen, ist es interessant, auch fotografische Positionen aus dem Zeitraum der 1950er bis in die 1980er Jahre hinein zu betrachten. Die Projekte der international namhaften Fotografen Werner Bischof, William Klein und Ed van der Elsken verfolgen verschiedene dokumentarfotografische Strategien im Umgang mit Japan. Ihre weitgehend künstlerischen Annäherungen zeugen sowohl von sich verändernden fotografischen Voraussetzungen im Umgang mit dem Fremden als auch von Veränderungen der japanischen Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Alle drei Projekte sind als Künstlerbücher publiziert worden.

Das monografische Künstlerbuch ist eine Publikationsform, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit eine besondere Bedeutung zukommt. Vom Künstler selbst konzipiert und gestaltet fasst es in der Regel alle zu einem Projekt gehörenden Fotografien als Einheit zusammen. Über die Bildauswahl, das Layout und die Einbeziehung von Texten entscheidet der Künstler selbst. Insofern stellt das Künstlerbuch eine autonome Kunstform dar, die nicht von redaktionellen Erwägungen eines Kurators beeinflusst ist. Es ist davon auszugehen, dass das Künstlerbuch ein Projekt vollständig und im vom Künstler intendierten Sinne enthält, weshalb es als ideale Form gesehen werden kann, die über Intention und Haltung des Künstlers Aufschluss gibt.

Ausschlag gebend für die Auswahl der vorgestellten Fotografen und Fotografinnen sind verschiedene Parameter: Grundprämisse ist die konsequente Anwendung einer künstlerischen Dokumentarfotografie, deren Intention es ist, sich anlässlich der zeitgenössischen japanischen Kultur und Gesellschaft intensiv mit Fragen des Fremden zu befassen. Insofern ist die Fremdheit gegenüber Japan Bedingung der Auswahl. Aus diesem Grund werden weder Europäer berücksichtigt, die in Japan, noch Japaner, die in Europa leben. Die Fremdheitserfahrung ist ein wichtiges Kriterium, denn in der Auseinandersetzung mit dem Fremden durchdringt sie sich mit der Selbsterfahrung: Beide sind nicht voneinander zu trennen. Weiterhin ist der Bereich der behandelten Motive entscheidend. Berücksichtigt werden Arbeiten, die sich verschiedenen japanischen Motivwelten widmen. Sie beinhalten beispielsweise Porträts, Architektur und Landschaften oder beschäftigen sich mit Menschendarstellungen im Zusammenhang mit Innen und Außenräumen. Nur so scheint gewährleistet, dass ein vielschichtiges Bild der japanischen Gesellschaft sichtbar wird. Arbeiten, die sich ausschließlich mit Architekturen, Landschaften oder Porträts beschäftigen, finden keine Berücksichtigung. Es geht insgesamt um die Erörterung der Frage, welche Möglichkeiten eine künstlerische Dokumentarfotografie bereithält, um Fremdes als Fremdes zu thematisieren und so möglicherweise ein über Klischees und Stereotypen hinausweisendes Japanbild zu zeigen. Dies scheint mitunter dadurch gewährleistet, dass unterschiedliche Elemente der zeitgenössischen japanischen Kultur innerhalb der einzelnen Arbeit berücksichtigt werden.

Im Zentrum der Betrachtung der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Japan stehen deshalb zwei Künstlerbücher. Paul Grahams und Elisabeth Neudörfls Arbeiten werden als Fallbeispiele für einen aufgeschlossenen Umgang mit dem Fremden untersucht. Beide Arbeiten sind sehr unterschiedlich konzipiert und zeugen von einem konsequenten Einsatz der künstlerischen Dokumentarfotografie. Diese beiden Fotografen werden beispielhaft betrach tet, weil sie sich über einen längeren Zeitraum in Japan aufhalten und sich intensiv mit der japanischen Kultur auseinandersetzen. Graham fotografiert Porträts, greift auf historisches Bildmaterial zurück, untersucht Innenräume sowie ausgewählte Situationen des Außenraums. Neudörfl konzentriert sich auf Porträts und urbane Situationen, fotografiert aber auch Landschaften sowie besonders gestaltete Freizeitumgebungen. Die Kombination von Menschendarstellungen mit anderen Motivgruppen ermöglicht einen umfassenden Einblick in die japanische Gesellschaft. Beide Fotografen haben ihre Arbeiten ausschließlich als Auseinandersetzung mit Japan konzipiert und als monografische Werke jeweils in Form eines Künstlerbuchs publiziert. Innerhalb der geschlossenen Form des Künstlerbuchs, in dem zahlreiche Fotografien zueinander in Beziehung gesetzt werden, lassen sich die Fotografien einzeln und in der Zusammenstellung sowie im Hinblick auf die Intentionen der Künstler zusammenhängend untersuchen.

Ziel der Arbeit ist es herauszufinden, welche Möglichkeiten eine zeitgenössische künstlerische Dokumentarfotografie besitzt, um einen über Klischees hinausweisenden Umgang mit dem Fremden zu leisten. Das Thema Fremdheit bedarf als Konkretisierung der Auswahl einer spezifischen fremden Kultur. Der europäische Blick auf Japan ist nicht das einzig mögliche Beispiel für die Untersuchung der Sicht auf das Fremde. Japan ist aber deshalb interessant, weil es oft als sehr anders, wenn nicht sogar exotisch, wahrgenommen wird; es gibt zahlreiche Japanklischees. Andererseits kann Japan als eine der weltweit führenden Industrienationen den europäischen Ländern gegenüber als gleichwertig gelten. Weil es erst parallel zur Erfindung der Fotografie von Ausländern – beispielsweise Reisenden, Handelsvertretern oder Wissenschaftlern – besucht werden kann, spielt die Fotografie in der Entdeckung und Erforschung Japans für den Westen eine entscheidende Rolle. Deshalb unterscheidet sich das Verhältnis Europas zu Japan von dem zu anderen Kulturen, die ebenfalls Gegenstand einer Betrachtung des Fremden sein können. Weil insbesondere seit den 1990er Jahren zahlreiche europäische Fotografen in Japan fotografiert haben, steht umfangreiches Material zur Verfügung. Im Umkehrschluss bietet sich auch die gegenläufige Untersuchung des japanischen Blicks auf Europa an. Es findet sich jedoch keine vergleichbar umfangreiche japanische Auseinandersetzung mit Europa. Zudem bietet die Analyse der europäischen Arbeiten so reichhaltiges Material, dass die Berücksichtigung des Blicks in umgekehrte Richtung Inhalt weiterer Untersuchungen sein muss.

Viele europäische Japanfotografien zeigen heute ein Land, das durch einen tiefen Riss zwischen Tradition und Moderne gekennzeichnet ist. Zeitgenössische Darstellungen verweisen hauptsächlich auf Aspekte der boomenden Metropolenregion Tokyo, auf postmoderne oder extravagante Architekturen, auf technologisch Avanciertes, auf die Manga und GameKultur, kurz: auf alles, was anders ist. Im Gegensatz dazu haben Fotografen wie Paul Graham und Elisabeth Neudörfl, die eine künstlerische Dokumentarfotografie betreiben, andere Ansätze und eigene Ansprüche. Sie vertreten ein Japanbild, das Klischees kritisch befragt und möglicherweise neue Sichtweisen etabliert. Damit initiieren diese Positionen im besten Fall beim Publikum ein Nachdenken über die eigenen Vorstellungen der fremden Kultur. Anhand dieser Japandarstellungen können Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarischen exemplarisch aufgezeigt werden.

Zur Entwicklung der Fragestellung ist es notwendig, zunächst einen theoretischen Apparat zu erarbeiten. Am Anfang steht die Auseinandersetzung mit Fragen nach dem Fremden und Fremdheit. Untersucht wird auch die Bildung von Stereotypen, die den Blick auf das Fremde verstellen. Denn sie versuchen, es mit Hilfe von Beschreibungen festzulegen, was dem Fremden in seiner schillernden Diversität nicht gerecht werden kann. Weil Japan als Beispiel von Fremdheit herangezogen wird, ist die Untersuchung der langjährigen Beziehungen zwischen Europa und Japan ebenso relevant für die Fragestellung wie die Beschäftigung mit konkreten Klischees und Stereotypen, wie sie Japan und der japanischen Gesellschaft von europäischer Seite aus zugeschrieben werden. Weiterhin sind die Möglichkeiten der Dokumentarfotografie auszuloten. Welche Ansätze bietet sie auf, um sich mit Realität und im konkreten Fall mit der Realität des Fremden anlässlich einer fremden Kultur auseinanderzusetzen? Dazu gehört eine eingehende begriffliche Untersuchung der Grundvoraussetzungen der Dokumentarfotografie ebenso wie die Unterscheidung verschiedener dokumentarfotografischer Ansätze, die sich mit dem Fremden beschäftigen. Diese theoretischen Grundlagen bilden die Ausgangsbasis für die Betrachtung der zeitgenössischen Arbeiten der künstlerischen Dokumentarfotografie als Fallbeispiele für den Umgang mit dem Thema des Blicks auf das Fremde, die im zweiten Teil der Arbeit erfolgt. Im ersten Teil der Arbeit werden in vier Kapiteln die theoretischen Grundlagen des Themas erarbeitet. Als Ausgangspunkt ist im ersten Kapitel das Fremde Gegenstand der Betrachtung. Thematisiert wird seine begriffliche Unterscheidung vom Anderen sowie der Umgang mit ihm. Hier sind insbesondere auch ethnologische Methoden relevant, die auf vielen Feldern der interkulturellen Begegnungen nutzbar gemacht werden können. Ethnozentrismus, Stereotypen und Vorurteile verstellen scheinbar den Blick auf das Fremde, weshalb die Umstände ihrer Entstehung genau beleuchtet werden. Weil das Fremde nicht ohne mediale Vermittlungen, sei es durch ethnografische Monografien oder fotografische Bilder, in Abwesenheit zur Anschauung gebracht werden kann, geht es schließlich um die Möglichkeiten seiner Repräsentation. Seine Vermittlung erweist sich jedoch als außerordentlich schwierig, was im Bereich der Ethologie zu einer Krise geführt hat. Welche alternativen Repräsentationsmöglichkeiten des Fremden stehen zur Verfügung?

Das zweite Kapitel führt Japan als konkrete Fremde ein und bietet einen Überblick über die komplexen Beziehungen zwischen Europa und Japan sowie die Entwicklung des europäischen Japanbildes seit den ersten Berichten Marco Polos bis in die Gegenwart hinein. Ausgehend von der Annahme, dass die heutige europäische Sicht auf Japan noch immer zumindest teilweise von stereotypen Wahrnehmungen beeinflusst ist, werden japanische Selbst und Fremdbilder auf ihre Wandlungsfähigkeit hin untersucht. Mittels der Analyse visueller JapanKlischees und deren historischer Entwicklung werden die bis in die Gegenwart hineinreichenden Auswirkungen der über Jahrhunderte tradierten Vorstellungen auf die westlichen Darstellungen Japans deutlich.

Das dritte Kapitel geht der Frage nach, wann Fotografie als dokumentarisch bezeichnet werden kann. Unter bildwissenschaftlichen Gesichtspunkten werden der Weltbezug sowie Fragen nach der Relevanz des Wahrheitsbegriffs für die Dokumentarfotografie erörtert. Das Wirklichkeitsversprechen der Fotografie, das eine authentische Repräsentation der Welt möglich erscheinen lässt, gilt als nicht einlösbar. Die ›indexikalische Spur‹ verweist auf die letzte Bastion der in der Frühzeit der Fotografie empfundenen Realitätsnähe. Weil dokumentarische Fotografie sowohl in künstlerischen als auch in angewandten Kontexten praktiziert wird, sind die Ansprüche an Ansätze und Ziele sehr vielschichtig. Eine allgemeine Definition, die alle Bereiche und alle Intentionen über den historischen Zeitrahmen mit einschließt, kann nicht gegeben werden. Die thematischen Voraussetzungen geben nur wenig Aufschluss über dokumentarische Praktiken. Anhand von inhaltlichen Interessen und Fragen nach der fotografischen Haltung werden dokumentarische Strategien in der Auseinandersetzung mit dem Fremden als Fremdes betrachtet. Die Rede von der Krise der Repräsentation macht deutlich, dass sich zeitgenössische Dokumentarfotografie selbstkritisch mit ihren medialen Bedingtheiten und Möglichkeiten auseinandersetzen muss, um mögliche Auswege aus der Krise aufzuzeigen.

Das vierte Kapitel unterscheidet zwischen künstlerischen und angewandten Gebrauchsweisen der Dokumentarfotografie. Diese Trennung erscheint sinnvoll, weil angewandte Strategien sich dem Fremden mit anderen Intentionen nähern als künstlerische. Die Grundvoraussetzungen der künstlerischen Dokumentarfotografie manifestieren sich unter anderem in der Unterscheidung zwischen beschreibenden und interpretierenden Annäherungen an die Welt, es sind aber auch verschiedene Teilbereiche weiter auszudifferenzieren. Neben einem historischen Überblick über die Entwicklung der künstlerischen Dokumentarfotografie werden Fragen nach der Autorschaft des Fotografen sowie der Zusammenfügung von Fotografien zu Serien und Sequenzen innerhalb eines Kontextes thematisiert. Für den angewandten Bereich werden Reisefotografie, ethnografische Fotografie und journalistische Fotografie unterschieden. So weit möglich werden Bezüge zur historischen und zeitgenössischen Japanfotografie hergestellt. Historische Entwicklungen sowie Themenwahl und Darstellungsformen werden analysiert und so die grundsätzlichen Unterschiede zur Annäherung an Fremdes in der künstlerischen Dokumentarfotografie herausgearbeitet.

Der zweite Teil der Arbeit beginnt mit einem Überblick über drei fotografische Positionen, die in der Zeit zwischen den 1950er und den 1980er Jahren in Japan fotografiert worden sind. Diese vorrangig im Feld der künstlerischen Dokumentarfotografie angesiedelten Arbeiten werden auf ihre verschiedenen Ansätze der Japanfotografie hin untersucht. Die Betrachtung folgt der Annahme, dass sich in dieser Zeit nicht nur die japanische Gesellschaft nachhaltig verändert, sondern sich damit einhergehend auch die Grundvoraussetzungen der Annäherung an Japan wandeln. Untersucht werden insofern die Wahl der Themen und die visuellen Strategien der Fotografen. Werner Bischof fotografiert zu Beginn der 1950er Jahre noch das amerikanisch besetzte Japan und verfolgt einen allgemeinen Ansatz. William Klein widmet sich zehn Jahre später ausschließlich der Metropole Tokyo. Ed van der Elsken fotografiert über einen Zeitraum von fast 30 Jahren in Japan und lässt die Veränderungen innerhalb der japanischen Gesellschaft sichtbar werden. Dieses Kapitel vermittelt zwischen der historischen und der gegenwärtigen fotografischen Auseinandersetzung mit Japan.

Das zweite Kapitel des zweiten Teils widmet sich verschiedenen Formen der europäischen künstlerischen Dokumentarfotografie im Japan der Gegenwart. Zunächst wird untersucht, in welcher Form sich Vertreter der Düsseldorfer BecherSchule – beispielsweise Thomas Struth und Heiner Schilling – in ihren Fotografien mit Japan als Fremdes auseinandersetzen. Einen weiteren Aspekt des europäischen Blicks auf Japan zeigt das noch andauernde Projekt European Eyes on Japan. Die Grundvoraussetzungen dieses Projekts sowie verschiedene fotografische Ansätze werden anhand von drei beispielhaft ausgewählten Arbeiten – von Naomi Salmon, Hans van der Meer und Margherita Spiluttini – analysiert. Untersucht werden auch verschiedene fotografische Strategien im Umgang mit dem fremden Japan sowie Möglichkeiten zur Überwindung voreingenommener Sichtweisen.

Im dritten und vierten Kapitel werden zwei Künstlerbücher ausführlich analysiert. Ausgehend von den Möglichkeiten, die ein in einem Künstlerbuch vollständig im Sinne des Künstlers repräsentiertes Projekt bietet, lassen sich Rückschlüsse auf die Ansätze und Intentionen der Fotografen ziehen. Das dritte Kapitel widmet sich ganz Paul Grahams Empty Heaven. In einer umfangreichen Analyse werden die gewählten Motivgruppen auf ihre Bedeutungen hin untersucht. Analysiert werden Grahams Verhältnis zum Japanthema und seine eingesetzten visuellen Strategien. Welche inhaltlichen Schwerpunkte wählt er für seine Arbeit? Wie integriert er die verschiedenen Motivkomplexe wie Porträts, reproduzierte Gemälde und Fotografien, Ansichten von kitschigen Gegenständen, Naturdarstellungen? Welche Rolle spielen traditionelle Japanthemen und wie verhält sich seine Arbeit in Bezug auf etablierte Japanklischees? Welches Japanbild können Paul Grahams Fotografien vermitteln? Wie thematisiert er Fremdheit? Diskutiert werden nicht nur die kulturellen Bedeutungen des Abgebildeten, sondern auch die Art der Umsetzung und die Anordnung der Fotografien im Buch.

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit Elisabeth Neudörfls Künstlerbuch Future World. Parallel zum vorangegangenen Kapitel stehen Fragen nach Intention und Annäherung an das Fremde im Mittelpunkt sowie die Analyse der eingesetzten Strategien zur Darstellung des Fremden. Eine eingehende Untersuchung der kulturellen Besonderheiten des in den Fotografien Dargestellten widmet sich den obigen Fragen und bettet Neudörfls Arbeit ein in den allgemeinen theoretischen Kontext des ersten Teils dieser Abhandlung. Themenwahl und Art der Umsetzung werden auf ihre Möglichkeiten hin befragt, etwas über die zeitgenössische japanische Kultur zu vermitteln und Fremdes als Fremdes sichtbar zu machen.

Das fünfte und letzte Kapitel untersucht die japanische Rezeption der Arbeiten von Paul Graham und Elisabeth Neudörfl. Weil die Analyse der europäischen Positionen in dieser Abhandlung aus einem europäischen Blickwinkel heraus erfolgt, kann sie keinen Aufschluss über die Beurteilung aus japanischer Sicht geben. Aus diesem Grund werden japanische FotografieExperten – Kuratoren, Galeristen, Fotografen, Professoren, Kritiker – nach ihren Eindrücken von Grahams und Neudörfls Japanprojekten befragt. Das Kapitel fasst deren Ansichten in Bezug auf den thematischen Ansatz, die gewählten Motive und die Strategien der Japandarstellung zusammen. Es geht darum herauszufinden, ob Japaner die Darstellungen als ihrer Kultur angemessen oder aber als stereotyp und klischeehaft wahrnehmen.